Orte an der Memel

Die Memel zwischen Kaunas und Tilsit (Sovjetsk) © andreas degen

Hinter den Feldern, weit,
hinter den Wiesen
der Strom.

Von seinem Atem
aufweht die Nacht.
Über den Berg
fährt der Vogel und schreit.


(aus: Die Memel)

Blick auf die Daubas, das linke Memelufer vor Tilsit © andreas degen

Die Daubas ist ein Stück Memelufer in der Nähe von Ragnit, mit ein paar Dörfern und Wald. Es liegt zwischen meiner Geburtstadt Tilsit und den Dörfern meiner Kindheit, in die ich durch Heirat zurückkam. […] Jeder meiner Träume hat diese Landschaft zum Schauplatz.

(J.B. an Georg Bobrowski, 13.12.1957)

Die Memeldörfer am Berg Rombinus, unweit von Tilsit (Sovjetsk) am rechten, seit 1923 litauischen Ufer der Memel gelegen. Dort verbrachte Bobrowski zwischen 1929 und 1939 seine Ferien (letzter Aufenthalt 1944).

Von dieser Landschaft sind zahlreiche seiner Gedichte und der Roman „Litauische Claviere“ inspiriert. In Willkischken lebte eine Tante, in Motzischken die Großeltern und Johanna Buddrus, Bobrowskis spätere Frau.

Blick vom Fuß des Rombinus auf das linke Memelufer, Grenzboje zwischen Litauen und der Oblast Kaliningrad © andreas degen

Aber die Gärten, der Schilfstrich
am Strom – jenes Uferland Daubas –
gilbende Scheunen –
und das Gespann, das vom Wald kam –
der Habicht im leeren Blau –

(aus: Die Daubas)

Blick auf den Rombinus am rechten Memelufer, nahe von Bittehnen © andreas degen

Er streicht das Ufer ab, bis zum Rombinus, wo es sich plötzlich erhebt und dann steil abfällt, als wollte es den Strom verschütten, wo die Erde schwarz wird, und zu den Sandgruben dort vor dem Wald.

(aus: Lipmanns Leib)

Opferstein auf dem sagenumwogenen, einst heiligen Berg Rombinus © andreas degen

Oben auf dem Berg, die Litauer, haben ihr Feuer schon hoch. Sie singen eine Weile. Das Feuer brennt über dem Stein, ruhig, nur manchmal greift der Wind von oben her in das offene Rund hinab und dreht die Flammen auseinander.

(aus: Litauische Claviere)

Blick vom Rombinus Richtung Tilsit (Sovjetsk) © andreas degen

Saluga geht hinter den beiden her, zum Absturz des Ufers. Da stehen sie oben über dem Steilhang und sehen über den Strom hin, zum Kapellenberg, und über die Lankas-Wiesen auf dem anderen Ufer.

(aus: Litauische Claviere)

Litauisches Holzhaus am Rombinus © andreas degen

Holzhäuser. Wer in solchen Häusern gelebt hat, vergißt es nicht. Du erwachst, und dehnst dich, läßt den Atem ein und aus gehn, langsam, noch mit geschlossenen Augen, und spürst: das Haus atmet ebenfalls, und dehnt sich, es ist, als wollte es anfangen zu reden, und du wartest darauf. Und im Winter scheint es sich dichter um dich herum zu schließen, die Wände kommen näher, das Dach sinkt ein bißchen, dichter um die Wärme, näher um deinen Schlaf herum. Und die schönen, aus runden Stämmen gefügten Wände, draußen geschwärzt von den Wettern und von der Sonne, glatt, aber auch schon rissig hier und da.

(aus: Betrachtung eines Bildes)

Fahrweg in der Nähe des Rombinus © andreas degen

Ein eingefahrener Sandweg. Ohne Gräben. Wie breit ist er, kann man das sagen? Er geht über in die Wiese. Oder die Wiese hört auf. Oder geht über in einen Weg. Wie ist das genau? Es gibt keine Grenze. Der Weg ist nicht zuende. Und die Wiese fängt nicht an. Das ist nicht ausdrückbar.
Und ist der Ort, wo wir leben.

(aus: Das Käuzchen)

Willkischken (Vilkyškiai), Blick auf die Kirche, rechts schließt der ehemalige Gutspark an © andreas degen

Aus einer anderen Kirche stammend, denn diese hier gehörte wohl zu den Salzburgerkirchen, diesen schmucklosen Saalbauten, die sich die Exulanten aus Österreich gebaut hatten, als nach der langen Pestzeit die verödeten Dörfer wieder zum Leben erwachten.

(aus: Litauische Claviere)

Motzischken (Mieciškiai) an der Jura, links des Pfeils befindet sich der Sandhügel mit dem Friedhof, rechts oberhalb der Buddrus-Hof, ein Stück weiter dorfauswärts der ehemalige Hof von Bobrowskis Großeltern

Ich kenne einen Friedhof. Hinter dem abgebrannten Gehöft. Wo die Nachtfeuer leben. Dort, vor den Windlichtern her, im Wiesenland, geht ein Fluß. Breit und flach kommt er ins Waldland. Noch vor dem Dorf, bei den Büschen, wo sich der Tränkbach verbirgt, ist er dunkel und schmal. Er drängt seine Wasser gegen das hohe Ufer und ruft hinauf. Aber der Wald tritt vor an den Abhang und blickt auf den Fluß und steht und redet nicht. Hier vor dem Dorf, in der kleinen Biegung, ist der Fluß tief. […] Der Sandweg kommt aus den Weidengebüschen. Und der kleine Hügel erhebt sich mit Holzkreuzen und kaum behauenen Steinen, der Sandhügel, nahe am Ufersturz.

(aus: Ich will fortgehn)

Das ehemalige Haus der Großeltern. © andreas degen

Nacht, lang verzweigt im Schweigen –
Zeit, entgleitender, bittrer
von Vers zu Vers während:
Kindheit –
Da hab ich den Pirol geliebt –

(aus: Kindheit)

Die Jura bei Motzischken © andreas degen

Deine Wasser
hart vor dem Wald,
unterströmig,
voll der weißen Kälte der Quellen
sommers.
Nur um Mittag
steigt an die Fläche leise
mit den glänzenden Flossen
der Fisch, ein alter Räuber. 

(aus: Die Jura)

Friedhof in Motzischken © andreas degen

Aber ich schlaf nur.
Ich bin nicht hier.
Ich such eine Stelle,
nur ein Grab breit, den kleinen Berg
über den Wiesen. Von dort
kann ich sehen
den Fluß.

(aus: Wiederkehr)

Blick vom Friedhofshügel Motzischken über die Jura © andreas degen

Also WIEDERKEHR, das ist an der Jura, welche ein Fluß ist, nicht an der Memel, die heißt immer Strom. Ort: Dorf Motzischken, Blick: vom linken Ufer, Nähe Friedhof, aufs rechte Ufer, das Wiesenufer, von dort dann vice versa.

(J.B. an Alfred Kelletat, 22.1.1963)

Blick über die Jura, nahe des Friedhofshügels © andreas degen

Wer hier steht, sieht den Fluß von weither kommen.
Er sieht das andere Ufer, den streifen Weiß, das Grün, wo
die Ebene anhebt und fortgeht, bis dorthin, wo der Himmel über sie herfällt.

(aus: Ich will fortgehn)

Jüdischer Friedhof in Georgenburg (Jurbarkas) an der Memel © natacha royon

Der blasse Alte
im verschossenen Kaftan.
Die Schläfenlocke wie voreinst. Aaron,
da kannte ich dein Haus.
Du trägst die Asche
im Schuh davon.

(aus: Die Spur im Sand)