von Prof. Klaus Völker
(Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 1995, ISBN 3-8031-3116-2)
Wie kaum ein anderer Dichter seiner Generation blieb Bobrowski zeitlebens geprägt von den Bildungs- und Landschaftserlebnissen seiner Kindheit und Jugend. Am 9.4.1917 im ostpreußischen Tilsit als Sohn eines Reichsbahnbeamten und Enkel eines Thorner Dampfmaschinen- und eines Rastenburger Glockengießereibesitzers geboren, wuchs er in „gesicherter Bürgerlichkeit“ und in einer Umgebung von tiefer Frömmigkeit auf, für die seine beiden Großmütter Pate standen. Die Großmutter väterlicherseits stammte von hugenottischen Einwanderern ab, ihr Vater war Lehrer, Kantor und gefeierter Orgelspieler in Dopken gewesen, die Großmutter mütterlicherseits kam aus einer streng baptistischen Forstverwalter-Familie, sie betätigte sich als Hebamme und Heilpraktikerin. Die Mutter tradierte das baptistische Erbe und lebte allen den Geist schlichter Brüderlichkeit vor. Sie war der feste Angel- und von keinem Familienmitglied angezweifelte Mittelpunkt des Elternhauses. Später in Berlin, als sie schon 60 Jahre alt war, legte sie das Große Katechetenexamen ab.
Aus beruflichen Gründen verlegte der Vater den Wohnsitz der Familie ins westpreußische Graudenz, doch ließ man sich 1920, als Westpreußen per Versailler Vertrag Polen zugesprochen wurde, wieder in Tilsit nieder. In der Stadt an der Memel, die bei den Anwohnern nur „der Strom“ hieß, später in Rastenburg (der Geburtsstadt des „Phantasus“-Dichters Arno Holz) ging Bobrowski zur Schule, die Gymnasiastenzeit absolvierte er von 1928 an auf der 1304 gegründeten Domschule der Kant-Stadt Königsberg. Unter Leitung eines Sohns des philosophischen Schriftstellers Johann Georg Hamann hatte diese Schule als humanistisches Gymnasium Altstadt-Kneiphof im 19. Jahrhundert großen pädagogischen Aufschwung bekommen, und das zu geistigen Ausschweifungen neigende Christentum Hamanns, des „Magus in Norden“, das hier durch die Lehrer auf die Schüler abstrahlte, verfehlte auch beim musisch begabten Hannes Bobrowski seine Wirkung nicht. Wegen zu schlechter Zensuren in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern scheiterte allerdings zweimal die Versetzung, erst im März 1937 wurde ihm das Reifezeugnis ausgestellt. Dem Gymnasium verdankte er vor allem seine gründlichen Kenntnisse der antiken Sprachen, des Herderschen Geschichtsdenkens und der ältesten Geschichte Preußens, die im Sieg des Deutschen Ritterordens über die Pruzzen gipfelte und dem durch diesen Sieg besiegelten Untergang eines Volkes, der planmäßiger Massenmord genannt zu werden verdient.
Literatur über diese Pruzzen, die Bücher von Alfred Brust und Walter Harich vor allem, verschlang der Pennäler wie Indianerbücher und er rechnete sich insgeheim zu den Mitgliedern des polenfreundlichen Eidechsenritterordens, der 1411 eine Verschwörung gegen den Ordensmeister Heinrich von Plauen angezettelt hatte. Was den Gymnasiasten damals aber vor allem auszeichnete, war „sittlicher und religiöser Ernst“, gepaart mit stark kritischer Veranlagung. Das protestantische Elternhaus förderte die Mitgliedschaft in der christlichen Jugendbewegung und in Schülerbibelkreisen. 1930 trat er in die „Gefolgschaft Luther“ ein, die sich „christliche Persönlichkeitsbildung durch Bibelstudium und edle Geselligkeit“ zum Ziel setzte. Diese Gefolgschaft hatte betont bündischen Charakter, man trug Wandervogel-„Kluft“ (kurze Hose, Fahrtenhemd, Fahrtenmesser, Koppel und Schulterriemen, Halsknotentuch) und hielt auf „Kameradschaft“. An der Tagesordnung waren Fahrten mit dem Rad, Bibelstudium im Reichszeltlager, Liedersingen an Lagerfeuern. Das paßte einerseits zum Geist der Zeit, andererseits kam da bei Bobrowski eine häuslich besetzte innige und musisch beseelte Frömmigkeit hinzu. Seit dem achten Lebensjahr wurde er im Klavierspiel unterrichtet, er lernte auch Geige und dann im Königsberger Dom Orgel spielen und wirkte sehr oft bei musikalischen Veranstaltungen als Chorsänger, Klavier- oder Geigenspieler mit. Der Schüler versuchte sich auch als Komponist, und den Wunsch, Musiker zu werden, den er durch Unterricht beim Domorganisten Eschenbach in Harmonielehre und architektonischem Aufbau der Musik handwerklich untermauerte, gab er erst auf, als sein Jugendfreund Gerhard Fett glänzendere Ergebnisse auf diesem Gebiet vorwies, so daß er sich lieber, wie er in einer Tagebuchnotiz schrieb, „auf die Poeterei zurückzog“. Nicht erst während des Krieges, wie er später in Interviews angab, sondern intensiv seit 1935 schrieb er Gedichte, und seit 1936 unternahm er Versuche, sie auch zum Druck zu bringen. Der Abiturient gab als Berufsziel „Verwaltungsbeamter“ an, den Eltern gegenüber äußerte er den Wunsch, Kunstgeschichte zu studieren, mit der Perspektive, Museumsleiter zu werden. Diesem Wunsch Rechnung tragend, zog die Familie 1938 nach Berlin. Da die Bibelkreise von den Nazis aufgelöst worden waren, hatten sich die Bobrowskis der Bekennenden Kirche zugewandt, an deren Bekenntnisgottesdiensten und geschlossenen Veranstaltungen sie regelmäßig teilnahmen. Die ihm von dem systematischen Theologen Hans Joachim Iwand empfohlenen Schriften Karl Barths, der eine dialektische Theologie verfocht, bestärkten Hannes Bobrowski in seiner Aversion gegen die Naziideologie. Die Aneignung der Lehren Hamanns bewirkte ein Übriges. Eberhard Haufe, der Herausgeber der Werke Bobrowskis und ihr bester Kenner, schreibt : „Hamann sich im theologischen Umfeld der Bekennenden Kirche zu denken, ist mit Blick auf seine im Prinzip lutherische und auf seine antifriderizianische Gesinnung nicht ohne Brisanz. Als der große Irrationalist innerhalb der deutschen Aufklärung wurde er später für Bobrowski zum geistigen »Ältervater« (wie schon Goethe ihn mit einer noch Bobrowski geläufigen Vokabel nannte). In ihm sah er seine eigenen aufklärerischen und gleichzeitig magisch-poetischen Intentionen in praktisch-menschlicher und geistiger Einheit vorgebildet.“ Ehe er zum Studium zugelassen wurde, mußte der Abiturient seinen Arbeits- und Militärdienst leisten, und als Nachrichtensoldat hatte er dann unversehens am Krieg gegen Polen 1939, anschließend an der Westfront in Frankreich und ab 1941 an der Ostfront in Ilmensee / Kurland, in Nowgorod und zuletzt in Litauen teilzunehmen. Im Winter 1941/42 wurde er zum Studium vom Kriegsdienst freigestellt und konnte ein Semester lang bei Wilhelm Pinder an der Berliner Universität Kunstgeschichte hören. Auf eine zweite Freistellung verzichtete er, weil sie nur zum Preis der Mitgliedschaft in einer Naziorganisation zu haben gewesen wäre. Er blieb Stabsgefreiter und arbeitete dann in sowjetischer Kriegsgefangenschaft von 1945-1949 im Donezbecken im Bergbau. Zweimal wurde er von dort auf sogenannte Antifa-Schulen nach Rostow und Taliza delegiert. Ende 1949 kehrte er zu seiner Familie nach Berlin-Friedrichshagen zurück; hier lebte auch seine Frau Johanna, die er im April 1943 während eines Fronturlaubs in Motischken geheiratet hatte. Weil er im Lager zum Kultur- und Theaterleben beigetragen hatte, bekam er einen Posten bei der Volksbühne, entschloß sich aber dann, lieber die Stelle eines Lektors in einem Kinderbuch-Verlag anzunehmen in der Hoffnung, auf diese Weise sich leichter der Poeterei widmen zu können. In die Schriftstellerkreise drang er nur selten vor. In einem Brief an den Autor Peter Jokostra heißt es 1957 : „… ich muß immer wieder ein paar Mal tief Luft holen, und das Heulen ist mir näher. Ich bin herzlich dankbar, daß Sie mir Ihre Freundschaft geben, denn ich war schon eine Weile so weit, zu glauben, es wäre wirklich nichts mit mir. Leute, die hierorts etwas sind – Huchel, Arendt, Hermlin, vielleicht noch Eva Strittmatter, der Grafiker Klemke oder Heiner Müller – sagen einem, wenn man sie alle Jahre einmal trifft, etwas Freundliches. Aber damit hat sich’s, meine alten Freunde halten mich für einen guten Kerl, der an seiner Poeterei wie an einer verschleppten Knabensünde leidet. Genug davon, ich werd es zu keinem Gedichtband bringen. Und es ist ja auch für mich ungewiß, ob meine Gedichte je Nutzen stiften können. Darauf kommt es wohl an.“
Erst 1959/60 wurde Johannes Bobrowski „entdeckt“. Jokostra hatte ihn einem holländischen Literaturkritiker, Ad den Besten, der auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Weissensee über die Gegenwartslyrik der DDR sprechen sollte, nachdrücklich empfohlen. Bei einer weiteren Tagung 1959, zu der nun auch Bobrowski eingeladen wurde, lernte man sich kennen, und Ad den Besten erregte damals einiges Aufsehen mit seinem Bericht über die Lyrik „auf der anderen Seite“ – wie die DDR hier diplomatisch nicht genannt wurde – in der evangelischen Monatsschrift „Eckart“, in der auch Gedichte des bisher unbekannten Bobrowski zu lesen waren. Aus diesem Beitrag ging dann eine Anthologie im Hanser Verlag hervor, die einen unerwarteten Wirbel entfachte, viel besprochen, verworfen, auch gelobt wurde sowie „kalte-Kriegs“-Gefechte auslöste – eine Debatte, die Bobrowski – der vor allem durch die zänkischen, beleidigt-aggressiven Polemiken seines Freundes Jokostra unfreiwillig als gesamtdeutsche Kampfwaffe herhalten mußte- am Ende doch unangefochten überstand. Denn noch war sein erster Gedichtband nicht erschienen, die Verträge im Stuttgarter DVA-Verlag und im Ostberliner Union-Verlag gerade erst unter Dach und Fach gebracht.
1959 druckte, nach der Veröffentlichung im „Eckart“ auch die Westberliner Zeitschrift „alternative“, herausgegeben von Ansgar Skriver und Reimar Lenz, ein Gedicht von Bobrowski, eine Zeitschrift, zu deren Autoren G. B. Fuchs, Christoph Meckel, Armin Juhre, Christa Reinig, Robert W. Schnell gehörten. Bobrowski lernte Fuchs kennen, so daß er dann gelegentlich in die Kreuzberger Hinterhofgalerie „Zinke“ kam. Auch Max Hölzer, mit dem er dann Freundschaft schloß und den er als Literaturkenner und Experten für moderne französische Lyrik außerordentlich zu schätzen wußte, traf er hier erstmals, ebenso Christoph Meckel. Letzterer bewährte sich dann als der entscheidende Verlagsvermittler: er übergab das Manuskript eines Gedichtbandes an seinen Verleger Ellermann in München und leitete Gedichte an den Herausgeber des „Merkur“, Joachim Moras, weiter. Da Ellermann zögerte, brachte Moras den Band bei der Deutschen Verlagsanstalt unter. Am 22. Januar 1960 las Bobrowski erstmals im „Westen“: auf Einladung des Schutzverbands deutscher Autoren kam es zu einer Lesung im Kreuzberger Wirtshaus „Max und Moritz“ in der Oranienstraße, in unmittelbarer Nähe der „Zinke“.
Johannes Bobrowski genoß für eine Weile diese für ihn neue kleine „Betriebsamkeit“, die nun keineswegs auf Kreuzberg beschränkt blieb. 1959 war Walter Höllerer nach Berlin gekommen, bei einem Empfang der „Akzente“ versammelte er alle Berliner Autoren, die in der Zeitschrift gedruckt worden waren. In der TU richtete er eine Lesereihe ein, so daß hier junge Autoren und interessierte Studenten der Literatur Bekanntschaft mit Günter Eich, Ilse Aichinger, Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Günter Grass, Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Hildesheimer, Hans-Erich Nossack, Martin Kessel, Hans Bender, Peter Rühmkorf, Martin Walter, Franz Tumler schließen konnten. Auch Bobrowski tauchte bei den Veranstaltungen gelegentlich auf, er nahm auch an der Frankfurter Buchmesse im September 1960 teil, und Walter Höllerer drahtete an Hans Werner Richter, diese „Überraschung“ der „anderen Seite“ wie es in Besprechungen der Anthologie des Ad den Besten hieß, zur nächsten Tagung der Gruppe 47 in Aschaffenburg einzuladen.
In Aschaffenburg, im November 1960, schloß ich mit Bobrowski näher Bekanntschaft, mit Peter Hamm und Elisabeth Borchers bildete ich hier den harten Kern einer kleinen Fan-Gemeinde, die auf den elegischen Grundton der von der Mehrheit immer noch höchst befremdet aufgenommenen Gedichte doch schon eingestimmt war. Mit dem Erscheinen des ersten Gedichtbands, „Sarmatische Zeit“ (die West-Ausgabe erschien im Februar 1961, die DDR-Ausgabe im Herbst 61), begannen nun auch kleine publizistische Schlachten um den Außenseiter der DDR-Literatur, der ohne sein Zutun als eine Art DDR-Pasternak geschildert wurde. Im Unterschied zu Autoren wie Peter Huchel, Erich Arendt, Stephan Hermlin, vermeldete man das Auftauchen eines „wirklichen Dichters“, ein neuer Ton sei in die deutsche Lyrik gekommen. Horst Bienek behauptete in der FAZ: „Es ist selten, daß ein lyrischer Debütant so gereift, so durchdacht, so überzeugend auftritt. Immerhin ist Bobrowski an die vierzig. Das mag manches erklären. Man hörte, daß er Hunderte von Gedichten verbrannt habe. Aber auch diese strenge Auswahl in Ostberlin zu veröffentlichen, wo er völlig zurückgezogen als Schreiber in einer Kanzlei lebt, war ihm verwehrt.“
Die Verse Bobrowskis wurden aus durchschaubaren, kaum literarischen Gründen überschwenglich gelobt, selten rezensiert. Bobrowski blieb bei seiner Haltung von 1959, als sich erstmals andeutete, daß er „benutzt“ werden sollte: „Ich selber werde mich nicht auf ostdeutsch firmieren lassen, sowenig wie auf ‚heimlich westdeutsch‘. Entweder ich mach deutsche Gedichte oder ich lern Polnisch.“
Die durch den Bau der Mauer geschaffene Zementierung der deutschen Teilung machte die Situation des Dichters, der mit 44 Jahren sein spätes literarisches Debüt hatte, nicht leichter. Er nutzte die Anerkennung, die Bestätigung und die Freundschaften. Er entfaltete eine ungeheure Produktivität, er hatte sein Thema, aber jetzt war er erst gefordert, es auch mit all seinen Ungeheuerlichkeiten, Abgründen, Dunkelheiten, mit allen Erinnerungen des Glücks und des ungeheuren Schmerzes zu gestalten. Im Gedicht und in der Prosa.
Er brauchte diesen kleinen Ruhm und die Bestätigung, um sich die Literatur, die jetzt entstand, abverlangen zu können. Als Preisträger der Gruppe 47, 1962, stieg sein Ansehen, die Journalisten, Redaktionen und Germanisten bedrängten ihn mit Anfragen, baten ihn um Interviews. Immer häufiger sollte er Stellung nehmen, Erklärungen abgeben, Ansichten und Absichten äußern, an Dichterlesungen und Tagungen teilnehmen. Die Lust, aus all dem Getriebe auszusteigen, die Leute „sozusagen auszuhungern“, überkam ihn. Es war oft eine Plage, bevorzugtes Ostberliner Ausflugsziel westdeutscher Autoren und Verleger zu sein, im Verlag Gutachten zu schreiben und an Programmsitzungen teilzunehmen, seinen Partei- und Verbandspflichten nachzukommen.
Bezeichnend vielleicht für diesen Zwiespalt und die Bedrängnisse, in die er geraten war, die ihm zusetzten und doch auch anstachelten, waren folgende Zeilen an Hölzer, Januar 1962: „Seit Monaten nichts geschrieben, in einer Dürre lebend, die die Erinnerung daran, daß ich ja doch geschrieben habe, wie eine Fata Morgana erscheinen läßt – getrennt von den Freunden, auch den hiesigen – und doch mit einer geradezu eschatologischen Hoffnung, die mich mit einer Ruhe und Sicherheit erfüllt, für die ich die Gründe nicht mehr beibringen kann … Als wär das so irgendwas, Gedichte zu machen, als gäb man nicht an einen Vers seine Gesundheit z.B. dran.“
Christoph Meckel hat in seinem wunderbaren Erinnerungsbuch an Johannes Bobrowski diese vier glücklich-unglücklichen Schaffensjahre, die dem Dichter vergönnt waren, zu beschreiben und zu ergründen versucht; die Zeit vom Erscheinen der „Sarmatischen Zeit“, Anfang 1961, bis zum plötzlichen Tod im September 1965: „Er sagte: ‚Ich will 125 Gedichte schreiben, das Ganze ordentlich verteilt auf drei Bücher, das ist dann alles, und ich leg mich ins Grab.‘ Das war der freudig betrunkene, schwafelnde und private Beginn seiner öffentlichen Existenz (sie war beabsichtigt und unvermeidbar), der Anfang des überstürzten Ruhms, der enthusiastischen, fragwürdigen und falschen Bestätigungen, der Verpflichtungen im eigenen Staat und im literarisch wichtigen Westen; der Podiumsdiskussionen, Doktorarbeiten, zahllosen Bruderschaften und literarischen Ehrungen; und es war der Beginn der Ermüdung, der enttäuschenden Freundschaften und enttäuschten Freunde, der Hektik, des Zeitmangels, des Schlafmangels und der Alpträume; der offenen Arme im Westen und der Vereinnahmung durch die DDR, der Interpretationen, Opernlibretti, Interviews, unabweisbaren Mitgliedschaften und Massenbesuche aus dem Ausland. Es war der Beginn einer gefährlich beschleunigten Melancholie und der endgültige Auftakt seines Sterbens. Es war der noch unsichtbare Grundstein des Todes.“
Indes : seine Produktivität fand hier auch Nahrung , belebenden Auftrieb, erfrischenden Sinn. Bobrowski hatte dennoch immer Zeit, er nahm sich Zeit. Er feilte an seinen Texten, las sie vor, prüfte ihre Wirkung. Sein Leben war nichts ohne die Familie, die Freunde, das Spielen am Clavicord; wie gerne spielte und sang er die geistlichen Kantaten Dietrich Buxtehudes „Herr, nun läßt du deinen Diener“ und „Ich suchte des Nachts“. Er ließ es sich nicht nehmen, im Kirchenchor seiner Gemeinde mitzusingen, und er kehrte mit neuen Erlebnissen, Anregungen und der Genugtuung, einen anderen Dichter (wie etwa James Baldwin) als Freund gewonnen zu haben, von Reisen aus Wien, Zürich, Finnland oder Stockholm zurück.
„Ich will fortgehen“, heißt eine seiner das Thema des Aufbruchs und des Bei-Sich-Ankommens so einfach und lapidar umreißenden kleinen Erzählungen, geschrieben um 1962/63. Die offene Form der Kurzgeschichte erlaubte das Spiel mit scheinbaren Abschweifungen, Einwänden, Fragen, Erinnerungsfetzen und ständigen Wechsel der Erzählperspektive. Auf die stringente Fabel pfiff er, lyrische Elemente, knappe Aussagen verstand er hier ziemlich forciert zur Verdichtung zu bringen. Fortgehen, aber wie lernt man das? Fortgehen wohin? Wegwohin? Doch kein Ort nirgends, wo es denn lohnte, zu verharren. Die Unruhe war sein Schreiben. Ihm wollte er nicht entkommen. Warum fortgehen? Die Erzählung schließt: „Um das Moor liegen die Schlangen. Die Unordnung geht umher, es wird dunkel. Aber wie geht man von sich selber fort? Wenn ich dort gewesen bin und dort und dort und immer nur, wo ich jetzt bin, bei mir? Da könnte ich noch hinzusetzen: Und bei meinen Leuten. Aber das brauche ich nicht. Es ist ohnehin das gleiche. Und es ist auch, denke ich, schon gesagt.“ Und in der Geschichte „Das Käuzchen“ heißt es: „Es gibt keine Grenze. Der Weg ist nicht zu Ende. Und die Wiese fängt nicht an. Das ist nicht ausdrückbar. Und ist der Ort, wo wir leben.“
Die beiden Geschichten „Ich will fortgehen,“ und „Das Käuzchen“ gab mir Johannes Bobrowski im Sommer 1963, als ihn die Nachricht ereilte, daß, wie schon mancher vor ihm, Hans Mayer nicht in die DDR zurückkehren würde. Er akzeptierte dieses “ Weggehen“ nicht, aber er maßte sich nicht an, es zu verurteilen. Er bedauerte allenfalls, daß jemand nicht Gründe hatte, zu bleiben wie er. Christa Reinig wollte nicht weggehen. Da sie den Bremer Literaturpreis persönlich entgegennehmen wollte, schob man sie ab. Sie mußte fortgehen, ohne es gelernt zu haben. Johannes Bobrowski gedachte ihrer mit folgendem Epigramm:
Märkisches Museum
Seufzen wird weiter das Wasser. Im Moorgrund die Sandader wandert
weiter, und weiter ertönt klirrend die Uhr an der Wand,
weiter will singen das Spielwerk, es ist noch die Feder gezogen -
nur die euch hörte, ging fort, Glocken und Pfeifen, schweigt still.
Von 1947 an hat Bobrowski gelegentlich auch Prosatexte verfaßt, sie aber nicht für wichtig genug gehalten, sich damit an die Öffentlichkeit zu wenden. 1959 entstand auf Bitten von Günter Bruno Fuchs, der eine Anthologie mit Großstadtgeschichten herausgeben wollte, die Skizze über einen Winkel Altberlins, „Es war eigentlich aus“. Von 1960 an ermunterte ihn die Deutsche Verlagsanstalt (DVA), der er per Vertrag für drei Jahre die Option auf seine nächsten Bücher eingeräumt hatte, sehr entschieden auch zu einem Prosaband. Klaus Wagenbach, Lektor im S. Fischer Verlag, erbat Ende 1960 einen Beitrag für eine Anthologie zeitgenössischer Prosa und erhielt die litauische Taufgeschichte „Begebenheit“ (die aber nicht gedruckt wurde in dem „Atelier“ betitelten Sammelband, weil nach dem Mauerbau die DDR-Autoren vom Verlag gestrichen wurden). Erst nach Abschluß seines zweiten Gedichtbandes im Frühling 1961, mit dem er die poetische „Bestandsaufnahme“ seiner „östlichen Vergangenheit“ vorerst für abgeschlossen hielt, gewann die Prosa für sein Schreiben eine zentrale Bedeutung. Das „mehr summierende oder mehr grundsätzliche Gedicht“, wie Bobrowski es gemäß war, bot keine Möglichkeit, sich auf historische und soziale Sachverhalte des Themas „Die Deutschen und der europäische Osten“ genauer einzulassen, Geschichtsgedichte lagen ihm nicht.
Der Entschluß, das sarmatische Thema auch in der bisher ja nur spärlich praktizierten Prosaform aufzugreifen und der planmäßige Übergang zur Prosa fielen zeitlich zusammen. Ende Juni 1961 schrieb er an Max Hölzer: „Und jetzt probiere ich Prosa. Das ist ein bitteres Geschäft, weil ich erst lernen muß zu arbeiten. Bisher hat mich mein Thema getragen.“ Im Unterschied zur Arbeit an Gedichten verlangte Prosa das tiefere Eindringen in einen Stoff und angemessenes Quellenstudium. Ideen und Pläne hatte er genug, doch fehlte ihm erstens die nötige Ruhe, um sie richtig auszuarbeiten. Jetzt aber wurde es zu seiner erklärten Absicht, 1963 „mit Prosa aufzukreuzen“. Den „Roman über Wassermühlen“, also „Levins Mühle“, faßte er ebenfalls noch 1961 ins Auge. 1962 erschienen drei Erzählungen im Druck, „Begebenheit“ und „Lipmans Leib“ in Peter Huchels „Sinn und Form“, „Von nachgelassenen Poesien“, im Königsberg Simon Dachs spielend, in der belgischen Zeitschrift „nul“. Inzwischen empfand es Bobrowski als stimulierende Herausforderung, die Prosa nach der Niederschrift beim Publikum seiner Lesungen zu testen, ihren gedrängten Rhythmus abzuschmecken, ebenso die eigenwillige, verknappende Syntax, die das Unausgesprochene zu verdeutlichen hat, kritisch zu überprüfen.
Gegenüber Christoph Meckel meinte er Ende September 1962 : „Jetzt mach ich doch meine Kleinprosa, alle paar Tage etwas, wenn ich 6o Stück habe, wird ausgesucht (hilfst du vielleicht dabei?), und dann ist das Band 3. Und dann kommt der Roman …“ In diesem Brief ortete Bobrowski auch dezidiert den Punkt, an dem seine Prosa liege, nämlich in einem Dreieck, das von Robert Walser, Isaak Babel und Hermann Sudermann gebildet wird. Die überraschende Sympathie für Sudermann bezog sich ausschließlich auf dessen „litauische Geschichten“, die in Dörfern des Kurischen Haffs und im Memelland angesiedelt waren, Geschichten, die Bobrowski nicht als bodenständige Heimatkunst, sondern als volkstümliche, liebevoll gepinselte Erzählliteratur bewertete, ähnlich den litauischen Geschichten Ernst Wicherts sowie jenen kuriosen Geschichten aus einer alten Stadt, die Werner Bergengruen im „Tod von Reval“ schilderte, eine seltsame Welt des Spukhaften, Bizarren, in der Reste der alten Mythologie, Spuren der Volkssagen und Lieder aufblühen, die die harte, bunte Alltagswirklichkeit aus Giftmord, Totschlag, Alkoholschmuggel und Versicherungsbetrug durch Brandstiftung grotesk überhöhen.
Der mündliche Erzählgestus von im Präsens verfaßten Geschichten wie „Die Reise nach Tilsit“ von Sudermann oder „Kleist in Thun“ von Robert Walser, die sich durch überraschende Gegenwärtigkeit und große Dichte des Geschehnisablaufs auszeichnen, war für Bobrowski beispielhaft. Das lakonische, fast reportagehafte Erzählen Babels und dessen Sympathie für die untergehende ostjüdische Welt, der er entstammte, betrachtete Bobrowski als weiteres verpflichtendes Vorbild. In „Mäusefest“ besonders ist der Einfluß Babels unverkennbar, es ist eine der schönsten und bewegendsten Kurzgeschichten Bobrowskis, eine mit raschem Wechsel der Erzählperspektive typische, in beeindruckender Nüchternheit reportierte Geschichte der „offenen Form“, in der dennoch alles anklingt, was zur Wahrheit des Erzählens gehört: „Das war ein Deutscher das hast du doch gesehen. Sag mir bloß nicht, der Junge ist keiner, oder jedenfalls kein schlimmer. Das macht jetzt keinen Unterschied mehr. Wenn sie über Polen gekommen sind, wie wird es mit deinen Leuten gehn?“
Die 6o angekündigten Geschichten schaffte Bobrowski nicht, aber im Juli 1963 beendete er überraschend schnell das epische Abenteuer seines Wassermühlenromans. „Das Experiment und Abenteuer, als das sich der Roman während der Niederschrift auswies“, bestätigt Eberhard Haufe in seiner kurzen Werkanalyse im ersten Band der Gesamtausgabe, „war zuallererst das des Erzählers und der Erzählhaltung. Was in der ‚Kleinprosa‘ schon deutlich angelegt war, entfaltete sich im Roman mit Konsequenz, das souveräne Verfügen über Sprache, Figuren und Fakten, der Freiraum mittendrin für den Erzähler, das, was Bobrowski mit einem Wort Hamanns das ‚Hausrecht‘ des Autors nannte.“ Mit dem Roman „Levins Mühle“ wußte sich Bobrowski die ihm gemäße Erzählerposition erfolgreich zu erobern. Als hervorstechendes Stilprinzip hatte er einen ganz persönlichen, „natürlichen Sprechtonfall“ gefunden, der ihm erlaubte, angesichts der modischen, von ihm verachteten „Technisierung der Sprache“ (vergl. den Brief an Gertrud Mentz vom 9.8.1963) die Ausdrucksmittel lebendig zu halten. Und dennoch hatte der „Erzähler“ Bobrowski erhebliche Skrupel, seine Sprache könnte zu gelöst, bloß erinnerungsselig und geölt sein. Seine Gedichte und die kurzen „verdichtenden“ Prosastücke sollten deshalb immer neu dem Ringen um eine Sprache, die unterwegs bleiben muß „auf dem endlosen / Weg zum Hause des Nachbarn“ und zum Dunklen unergründbarer Natur, Überzeugungskraft verleihen.
„Levins Mühle“ erschien im Herbst 1964 gleichzeitig im Ostberliner Union Verlag und bei S. Fischer in Frankfurt am Main. Vorausgegangen war ein längeres Gezerre um die Rechte beziehungsweise die Lizenzvergabe. Denn Klaus Wagenbach, der sich um den Autor für S. Fischer bemüht hatte, war unerwartet und mit Eklat aus dem Frankfurter Verlagshaus entlassen worden und machte Anstalten, einen eigenen Verlag auf die Beine zu stellen. Da Klaus Wagenbach sich den Plan, Verleger zu werden, nicht ausreden ließ („weil er soviel Geld ja gar nicht haben kann“, argumentierte der besorgte Dichter), sah sich Bobrowski veranlaßt, dem bewährten Freund und strengen Lektor beim Verlagsstart mit einem Titel zu helfen, „wie das die anderen alle auch machen werden, weil man ihn ja nicht ertrinken lassen kann“ (an Elisabeth Borchers am 20.4.1964), und so schrieb er am 22.Juli 1964 seinem hoffentlich auch künftig um ihn bemühten „Cotta“: „Also dann ist ja gut, lieber Klaus, und wenn du den Verlag nun doch nicht aufgibst undsoweiter, dann kriegst du also ein Bändchen: bisher 9 Geschichten; es werden noch mehr, aber nicht mehr als 70 Seiten, eng beschrieben. Mußt eben bißchen zaubern mit Satzspiegel, Schriftgröße, Durchschuß usw. Ich mach nämlich 2 Bändchen, einen für die DVA vonwegen ‚Schlechtes Gewissen‘. Geht nicht anders.“
Im Oktober 1964 stellte Bobrowski ein Konvolut von 24 Erzählungen mit dem Titel „Boehlendorff und Mäusefest“ für den Union Verlag zusammen und fügte ihm Ende des Jahres noch die Erzählung „In eine Hauptstadt verschlagen“ hinzu, zu deren Niederschrift ihn ein Aufenthalt in Stockholm anläßlich der Tagung der Gruppe 47 in Sigtuna angeregt hatte. Als Ganzes erschien der Prosaband, von Bobrowski noch imprimiert, erst kurz nach seinem Tod im September 1965. Bereits kurz vor Ostern 1965 kamen 11 Geschichten dieser Sammlung mit dem Titel „Mäusefest und andere Erzählungen“ als Quartheft Nr. 3 im Verlag Klaus Wagenbach heraus, und im August 1965 erschien der Band „Boehlendorff und andere“ (insgesamt 14 Erzählungen) in der DVA Stuttgart.
Seit der Rückkehr aus Schweden war Bobrowski von einer Art Prosa-Schreibfieber erfaßt, viele Geschichten bedrängten ihn und reizten ihn zu visionärer Vergegenwärtigung. Er wollte nun endlich zur erzählerischen Summe und Synthese seines zentralen Themas kommen. Die bevorstehende Veröffentlichung aller Erzählungen nahm für ihn „den Charakter eines Offenbarungseides“ an. „Mir scheint“, gestand er im Oktober 1964 gegenüber Manfred P. Hein, „alles bisherige waren Vorstufen, das Eigentliche, was ich zu sagen habe, kommt erst noch“. Dieses „Eigentliche“ waren u.a. die Erzählungen „Der Mahner“ (für Klaus Wagenbachs Anthologie „Atlas“ geschrieben), „Betrachtung eines Bildes“ und „Der Tänzer Malige“, dann das Projekt einer Kriegsgeschichte, in deren Mittelpunkt die reale Begegnung eines deutschen mit einem russischen Soldaten im Niemandsland vorgesehen war, eine Begegnung, die er dann lieber in Träumen imaginieren wollte, um die Geschichte dem Leser als deren „Rekapitulation nach dem Erwachen oder später“ darzubieten. Vor die Kriegsgeschichte schob sich bald die Niederschrift eines zweiten Romans, „Litauische Claviere“, der an zwei Junitagen des Jahres 1936 im Memelgebiet spielt und zugleich vom Leben des litauischen Dorfpfarrers und Dichters Christian Donelaitis berichtet. In der Zeit vom 6. Juni bis zum 28. Juli 1965 war Johannes Bobrowski hauptsächlich mit der Ausarbeitung dieses Romans beschäftigt. Einen Tag nach der Fertigstellung des Manuskripts wurde er mit Blinddarmdurchbruch ins Köpenicker Krankenhaus gebracht, in dem er am 2. September 1965 starb. Alle Bemühungen der Ärzte, sein Leben zu retten, hatte am Ende eine Gehirnblutung zunichte gemacht.
Johannes Bobrowski war es nur ganz kurze Zeit vergönnt, ein großer Dichter zu sein. Sein Tod, schrieb man in Ost und West, sei ein Trauerfall für das ganze Land. Daß solche Worte keine nichtssagende Redensart waren, bestätigte sein Begräbnis auf dem Friedrichshagener Friedhof in der Aßmannstraße, nicht weit von der Wohnung in der Ahornallee 26 gelegen. Auf dem alten Dorfkirchhof mit den schönen Erbbegräbnissen reicher Familien, kleinen Backsteinvillen unter Eichen und Lindenbäumen, versammelte sich eine unübersehbare Menge von Trauernden: die Angehörigen, Nachbarn und Leute aus der Umgebung, Repräsentanten von Kirche und Staat, Mitarbeiter des Union Verlages, Parteifreunde der CDU, der Minister für Kultur, die Funktionäre des Schriftstellerverbandes und nicht zuletzt viele Schriftsteller-Freunde aus Ost- und Westdeutschland : Ingeborg Bachmann, Erich Arendt, Stephan Hermlin, Uwe Johnson, Christoph Meckel, Manfred Bieler, Hubert Fichte, Günter Kunert, Franz Tumler, Wolfgang Kohlhaase, Rolf Haufs, Karl Mickel. Hans Werner Richter pries den Verstorbenen als ein „Genie der Freundschaft“ und als „Apostel der unzerstörbaren Einheit der deutschen Literatur“: „Für mich und für viele von uns war er das Bindeglied zwischen den Schriftstellern der DDR und der Bundesrepublik, ein Mann, der seinen Raum ausfüllte, vorbildlich, integer, ohne unmittelbare politische Absicht, und doch immer politisch wirkend, im Sinne des menschlichen Bindens.“